Simenon: Maigret

Texte: Ekkehard Knörer

1 Maigret und Pietr der Lette

Maigret, der Kommissar als dunkle Masse, unbeweglich fast, wie er geht, steht, sitzt, lauert. Auf der Straße, im Zimmer, als einer, der blickt und mit seinen Blicken wie seinem Körper die Verdächtigen bedrängt. Hier hat er es mit zwei Männern zu tun, die sich ähneln, einer ist tot, gefunden in der Toilette des Zugs, der andere lebt. Ihre Bilder schiebt Simenon immer wieder übereinander, sie haben wechselnde Namen, ihre Spur ist sehr sichtbar, denn mit der Information über die Stationen einer Bahnfahrt beginnt der Roman. Es fehlt also nicht: der Mann. Es fehlen nicht: Spuren. So wenig wie: Komplizen. Und: weitere Schüsse, und Tote. Maigret selbst wird getroffen. Der Schmerz macht ihn noch immobiler, aber, nach Art eines Miyazaki-Monsters, noch dunkler und größer. So rückt er dem Mann, über den er alles weiß, dem er nichts nachweisen kann, näher und näher, als Schattenmassiv, bis er ihn fast erdrückt. Eindrücklich der Kampf am und im Wasser, ein Ringen nicht so sehr der Körper, sondern des Willens. Es stecken dahinter: Eifersucht, Frauen, Hass und Neid zwischen Brüdern. Also ein Plot, er liegt nun aufgedröselt zu Tage. Es kommt Simenon aber nicht auf das Aufgedröselte, schon gar nicht aufs Aufdröseln an. Sondern auf die Dichte der Textur, das Zusammengeschobensein von Fäden, Figuren und Dingen, gegen das Maigret als das Zusammengeschobene selbst seine mächtigen Kräfte, seine ungeheure Passivität, einsetzen kann. (79cp)

2 Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Im ersten Maigret-Roman war Sturm und Gewitter, in diesem, dem zweiten, ist kaum erträgliche Hitze. Auf dem Weg, den Maigret geht in die Siedlung im Wald, sie ist im Entstehen. Er hat den Vorortzug genommen, er spricht mit der Witwe, er sieht an der Wand ein Foto des Toten, das ihn fast bis zum Ende nicht loslässt. Auf den Mann, er war im Hotel, wurde geschossen und dann hat eine Hand ein Messer in sein Herz gebohrt. Zimmer im Erdgeschoss, draußen eine Mauer, ein Brennesselweg, ein Tor und ein Schloss. Auch ein Gärtner, der ist nicht der Mörder. Wenig ist das, was es scheint, ja, es ist, in diesem Fall, sagt Maigret, der mit seinen zwei Zentnern sehr schwitzen muss, alles falsch. Kurz vor Schluss zerbeißt er seine Pfeife, nicht zuletzt angesichts eines Lebenswegs, der von Unglück gepflastert ist von Anfang bis Ende, es ist der wahre Brennesselweg. Eine Nacht liegt er wach, dann biegt er die Wahrheit ins Falsche und stellt ein wenig ausgleichende Gerechtigkeit her. (74cp)

3 Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Bremen, wieder Bremen, das spielte schon im ersten Roman zu Beginn eine Rolle. Und wieder ein Mann, der seinen Namen geändert und als Louis Jeunet eine Art falsche Existenz geführt hat. Es ist, als schiebe Simenon in einer Art halbbewusster écriture sémi-automatique Motive, Figuren, Szenarien, Begegnungen ineinander, alles ähnelt sich und dann wieder nicht. Es geht um Rätsel, die sich nicht lösen, auf existenzielle Weise nicht lösen lassen, aber zu Formen von Klarheit verdichten, die aber keinen entlastet; eher sind es Romane eines immerwährenden Lastens. Dieser Mann hier, der falsche Jeunet, dem Maigret aus einem Gefühl heraus von Lüttich nach Bremen gefolgt ist, bringt sich um, als er bemerkt, dass sein Koffer mit dem von Maigret vertauscht worden ist. Der Kommissar findet in dem des nunmehr Toten jedoch nur einen alten Anzug, der allerdings auf eine alte Geschichte verweist, die Maigret mit den ihm eigenen Mitteln der Insistenz, durch Schweigen und Warten und Pfeiferauchen und Massiger-Körper-Sein unterstrichen, zum Vorschein bringt. Eine Art Lütticher Verbrechen-und-Strafe-Variation, aber das ist weniger interessant als der schwere Nebel, oder Pfeifenrauch, der alles umühllt, die Schwere, mit der die Täter, unglücklich alle, in die Ecke gedrängt werden, einfach dadurch, dass Maigret da ist, wo sie sind. Er hat an Beweisen nichts in der Hand, sein Ermitteln ist eine Kunst der Maieutik des schlechten Gewissens, auch wenn der Kommissar aus Paris eine sehr eigenwillige Art von Hebamme ist. (77cp)

4 Maigret und der Treidler der Providence

Die ersten Maigret-Romane verfasste Simenon in rascher Folge an Bord seiner Yacht. Hier wird die Umgebung des Schreibens nun Gegenstand eines Buchs. Alles spielt am Canal latéral à la Marne, bei Regen, bei Nacht, am Wasser, an Bord, an den Schleusen. Maigret ist im Lokal, in dem sich die Schiffer, Passagieren und Treidler versammeln, wenn das Boot festmachen muss. Wie festgemacht ist auch die Erzählung, die die noble Yacht Southern Cross und den sie besitzenden Oberst mit dem Kahn Providence kontrastiert. Eine Tote findet sich im Stroh, einer im Wasser, Maigret stapft durch den Schlamm oder radelt furios sechzig Kilometer am Stück am Ufer des Kanals. Natürlich schweigt er sehr vie, macht sich Gedanken, die sich am Ende wundersam zur Lösung eines Rätsels verdichten. Erneut ist da ein Mann, der nicht der ist, als der er sich ausgibt. Er spricht wenig, ist klein, alt und doch monumental. Ans Licht gelangt die Wahrheit in einem Verhör. Jedoch ist das Licht nicht sehr hell, der Verhörte längst im Reich zwischen Leben und Tod, des Sprechens schon nicht mehr fähig. Alles ist hier Übergang, Rand: die Schleusen, das Dunkel, Menschen und Dinge und Maigrets Pfeife nah am Verlöschen. (78cp)

5 Maigret und der gelbe Hund

Der gelbe Hund, ja, der läuft mehrfach durchs Bild. Wird angeschossen, nicht als einziger, lange ist unklar, zu wem er gehört. Wie auch lange unklar ist, wie sich die Serie an Verbrechen zu Tätern, Opfern, Vorgeschichte und dann auch noch Hund sortiert. Der Ort ist Concarneau in der Bretagne, also Provinz, hierhin gerät Maigret als Abgesander der mobilen Brigade in Rennes. Ein Café ist der zentrale Schauplatz, mehrere angesehene Bürger der Stadt stecken unter einer Decke, es muss sich herausstellen, wie. Eine Szene, die Simenon selbst als Quasi-Stummfilm beschreibt: Maigret auf Beobachtungsposten, eine Kellnerin und ein Landstreicher in einer Wohnung, von außen durch das Fenster zu sehen. Hier dämmert es dem Kommissar, der sich, wie er erklärt, für ein Gesicht fasziniert. Dazu ein kleiner discours de la méthode, die es nämlich nicht gibt. Er ermittle, sagt er, aus dem Moment und aus Intuitionen heraus, eine Methode lasse sich daraus gerade nicht destillieren. Aufklärung des Falls im Gefängnis. Der Hund ist tot. Ansonsten ist der Gerechtigkeit Genüge getan. (72cp)

6 Maigrets Nacht an der Kreuzung

Wieder ist Maigret exterritorial, diesmal nicht die Bretagne, sondern Niemandsland nicht weit von Paris. Für Niemandsland mit gerade drei Häusern ist an dieser Kreuzung mit Tankstelle aber einiges los. Ein Toter in einem Auto in der falschen Garage, Sodom und Gomorrha, wohin man auch blickt. Nicht koscher: Der Däne, der seit einem Flugzeugabsturz ein Glasauge träge. Seine vermeintliche Schwester, die Maigret durchaus erregt, indem sie seinem Blick den Zugang zu einer ihrer Brüste erlaubt. Darauf ist eine Narbe als vom Erotischen wegleitende Spur. Der Oberkörper des Dänen wird wenig später entblößt, zweier Schusswunden wegen. Gift gibt es, Kokain in Autoreifen, Schüsse, noch eine Tote. Maigret ermittelt wieder durch obstinates Bleiben und Warten. Am Ende wird klar, dass er sich schon eine Weile seinen Teil dachte. Erzählen ist Mitteilen, aber der Weg zur Aufklärung ist wie immer das Ziel. (74cp)

7 Maigret und das Verbrechen in Holland

Maigret eilt nach Holland, in die Kleinstadt Delfzijl, weil ein französischer Professor (Kriminologie) unter Mordverdacht steht. Am Ort, den es realiter gibt, steht eine Skulptur von Maigret, den sich Simenon genau hier, so geht die Legende, ausgedacht hat. Im Buch ist der Kommissar erst mal beim Kalben dabei. Bei dieser Gelegenheit schon, und später erst recht, ziemlich auf die Brüste der jungen Bauerstochter Beetje fixiert. Nicht als einziger, so hat auch das Opfer, ein Seemann, mit ihr was gehabt. Beetje will weg, Männer sieht sie dafür als Vehikel, was Maigret im Grunde versteht; im Epilog gönnt ihr Simenon die gelungene Flucht, aber das Lebensglück nicht. Zuvor eine Art Agatha-Christie- und Landhaus-Pastiche. Wer war wann wo Motiv Zeugen Revolver Mütze sogar Schuss auf Maigret. Reenactment des Geschehens, der Kommissar ist das Opfer, der Tatzusammenhang ein Eifersuchtsdrama. (68cp)

8 Maigret rettet den Kopf eines Mannes

Maigret inszeniert einen Gefängnisausbruch. Er ist sicher, dass der Mann, der einen Mord begangen haben soll, unschuldig ist. Zehn Tage gibt sich Maigret, der Wahrheit auf die Spur zukommen, gibt Maigret den Dingen, die Wahrheit aus sich heraus zu offenbaren. Auf die Flucht des vermeintlichen Mörders folgt: Sitzen in Cafés, in der Bar Coupole in Montparnasse, im Café Americain mit vielen Touristen. Folgen: Bewegungen durch Paris, Beobachtungen, Begegnungen mit Männern und Frauen, die in der Sache hängen, nur fragt sich noch, wie. Einen Plan im engen Sinn hat Maigret wieder nicht. Die Dinge, Figuren, Konstellationen jedoch ergeben sich, durch Zusehen eher als Zutun, durch Abwarten eher als aktives Treiben, sie halten dem Sitzen und Blicken und Nicht-Weichen Maigret nicht lange stand. So ist schnell klar, dass ein Mann namens Radek mit der Sache zu tun hat. Ihm folgt Maigret, bei Tag und bei Nacht, ohne Schlaf. So tritt, im Café Coupole und an anderen Orten, die Wahrheit zutage, Maigret ist ihr Katalysator. Sie will heraus, er hilft ihr dabei. Die Erklärung und Auflösung am Ende: beinahe klassisch. Eine Hinrichtungsszene: Der Mann, dem um ein Haar das perfekte Verbrechen gelang, fällt vor den Augen Maigrets. (77cp)

9 Maigret at the Gai Moulin

Simenon als Prä-Ambler, eine Spionagegeschichte um einen Griechen (er ist allerdings von Anfang an tot, in einem Wäschekorb noch dazu), deren zentraler Schauplatz allerdings ist, europäischer Hintergrund hin oder her, eine Kneipe in Lüttich. Hier kreuzen sich, so will es der Zufall von Simenons halluzinatorischer Fantasie, die Wege der Protagonisten. Der Besitzer, eine mysteriöse Figur. Zwei ehrgeizige junge Männer, die nachts im Keller lauern und die Kasse des Gai-Moulin ausräumen wollen. Der Grieche, in einem ersten Spionage-Auftrag, der sein letzter sein wird. Adèle, Tänzerin, der Weg in ihr Bett ist nicht weit. Und einer, der nicht sofort als Hauptverdächtiger gilt, erst noch ein Vorspiel, er bleibt im Schatten: Das ist Maigret. Später Auftritt, er geht sogar, es ist sein Plan, in den Knast. Zuletzt großer Monolog, in dem das Dunkel sich lichtet. Wenig Maigret, viel Plot, nicht ohne Mühen am Ende entflochten. Madame Maigret darf, nicht mehr als ein Nachgedanke, kurz Eifersucht zeigen. (65cp)

10 Maigret und die Neufundlandfahrer

Den alljährlichen Urlaub mit der Gattin im Elsass muss Maigret verschieben, und zwar geografisch, nach Quimper in die Bretagne. Ein alter Bekannter bittet um Hilfe, ein Mord an einem Schiffskapitän, es gilt, die Unschuld eines falsch Verdächtigten zu beweisen. Frau Maigret liegt am Strand, der Herr Gemahl begibt sich in die übliche identifikatorische Trance mit den handelnden, gehandelt habenden, leidenden, verzweifelten Figuren. Tot: der Kapitän. Aber auch: ein Schiffsjunge. Leidend, der Welt durch einen Schuss in den Bauch zu entkommen versuchend: der Funker. Die Welt nicht mehr verstehend: dessen Freundin. Als erst Unbekannte mit zugekritzeltem Kopf auf einem Foto im Spiel: eine allzu sinnliche Frau, sie war als (fast) blinde Liebes-Passagierin auf dem Schiff. Und also Quelle des ganzen Unglücks. Maigret brütet, intensiv, beschwört die Lage auf dem Schiff vor seinem inneren Auge, seiner Seele herauf. Dann fällt der Groschen. Maigret kennt den Täter, der so wenig Täter ist, dass er ihn davon kommen lässt. Kurzer Epilog, ein paar Monate, dann fünf Jahre später. Eine Art Happy End, aber der Kommissar scheint, eine letzte Geste, verstimmt. (76cp)

11 Maigret und das Schattenspiel

Place des Vosges, Marais, Fokus auf ein einziges Haus, Nummer 61. Hier ist einer, Raymond Couchet, der mit der Herstellung von Seren ein Vermögen gemacht hat, gestorben. Der Safe hinter ihm ist geöffnet, Geld ist verschwunden, der tote Körper blockiert die Safe-Tür. Couchet war ein Mann der drei Frauen: Eine hat ihn verlassen, hat einen Beamten geheiratet, bevor Couchet zu Geld kam, das bereut sie nun sehr. Eine, seine Ehefrau, stammt aus besseren Kreisen, zu denen Couchet im Habitus nie aufsteigen wollte und/oder konnte. Und die dritte, seine Geliebte, ist Nine aus der Halbwelt, eine Pigalle-Tänzerin im Cabaret Moulin Bleu. Einer ist aufgestiegen, eine bekommt dazu keine Chance, eine wird vom Begehren nach Geld und Aufstieg verzehrt und alle sind Opfer einer Gesellschaft, die Simenon im Blick des Kleinbürgers Maigret, durch Fenster, in Herzen, als Verhängnis beinahe naturalisiert. Er flieht in sein Heim, zu Madame Maigret, eine Gegenwelt, die immer nur aufscheinen, die als falsche Utopie aber nicht erzählt werden kann. (68cp)

12 Maigret und die kleine Landkneipe

Es ist Sommer, und schon wieder nichts mit dem gemeinsamen Urlaub im Elsass, zumindest fürs erste. Madame Maigret reist ab, den Kommissar jedoch zieht es zu einem offenen Fall. Ein zum Tode Verurteilter rückt, aber nur halb, mit der Sprache heraus und weist Maigret in Richtung eines Falls, in dem die Sühne noch aussteht. Der Schauplatz, oder Fundort, auch wenn erst gar nicht klar ist, welchen Verbrechers und welchen Verbrechens, ist eine Landkneipe. Wieder zieht es Simenon ans Wasser, an die Seine, in die Kneipe zum letzten Sou, eine Bauernhochzeit wird inszeniert, es zieht Simenon und es zieht Maigret, der einen Pernod nach dem anderen trinkt, der sich in diese sehr eigene Welt begibt, in der dann tatsächlich einer stirbt. Der Kommissar entfaltet eine Stufentheorie seines Ermittelns, Hinein in die Welt, in der er, nur wahrnehmend, sich assimilierend, versinkt, bevor er einen roten Faden zu fassen bekommt, den er dann bis an sein Ende verfolgt. So geht es auch hier, in einen menschlichen Abgrund hinein, Betrugs- und Liebesgeschichten, Geld, Frau und Mord, einen Abgrund, der nicht einmal schwarz ist, oder schwärzer als schwarz, nämlich grau. Trost gibt es nicht, Maigret bucht eine Zugfahrt: Einer ist auf viele Jahre im Knast, der andere fährt ins Elsass, da ist seine Frau. (78cp)

13 Maigret und die Affäre Saint-Fiacre

Ein Tod wird angekündigt: Die Gräfin von Saint-Fiacre wird im Gottesdienst sterben. Maigret glaubt nicht daran, und fährt doch nach Moulins, denn es ist der Ort seiner Kindheit. Hier wurde Jules Maigret vor 42 Jahren geboren, hier war der Vater Verwalter des Schlosses der Gräfin, die nun im Gottesdienst sterben soll. Und tatsächlich stirbt, vor Maigrets Augen. Ein Tod von bedingter Kausalität: Im Gesangbuch lag ein gefälschter Zeitungsbericht über den Selbstmord des Sohnes der Gräfin. Der freilich lebt, wenngleich überschuldet. Und ist der Verdächtige Nummer eins. Aber da sind auch noch der letzte Sekretär Métayer, der womöglich der Gräfin Liebhaber war, und der Verwalter Gautier und sein Sohn. Gegenwart und Vergangenheit gehen für Maigret ineinander, Erinnerungen an bessere Zeiten drängen sich zwischen die tristere Aktualität. Gespräche in der Kneipe der Kindheitsfreundin, die den Kommissar aus Paris nunmehr siezt. Schlussarrangement in Walter Scotts Manier (wie Maigret ausdrücklich sagt). Es fällt ein Schuss. Ein Mord, der im strengen Sinn keiner war, wird aufgelöst, aber niemand wird, im strengen Sinn, zur Strecke gebracht. (69cp)

14 Maigret bei den Flamen

Es ist seine Frau, die Maigret um Hilfe für Verwandte in Givet, einer Stadt in den Ardennen an der belgischen Grenze gebeten hat. So kommt er an, wird von den Einheimischen als Fremder behandelt, Faszination und Nähe (wenn nicht Geborgenheit) empfindet er im Haus der von Franzosen des Orts angefeindeten Flamen. Wieder und wieder sucht er die Gemeinschaft der Familie Peeters auf, atmet die Atmosphäre, lauscht dem Klavier, auf dem sie Solveigs Lied spielen, weiß längst, was sich zugetragen hat – und klärt den Inspektor des Ortes, der selber Rassist ist, nicht über die wahren Vorgänge auf. Ein falscher Täter verschwindet, wieder per Schiff; und die wahre Täterin kommt mit Leben und Freiheit davon. (72cp)

15 Maigret in der Liberty Bar

Es zieht Maigret (und Simenon) aus der Stadt, ans Wasser, an die Kanäle, in Bars. Diesmal das Meer, Antibes, Cannes nebenan. Ein Auto mit zwei Frauen darin fährt gegen die Wand; ein Mann, mit den zwei Frauen auf rätselhafte Weise verbunden, wird auf der Treppe zum Haus, in dem er mit den zwei Frauen lebte, erstochen. Zwei Tage warten sie, dann begraben sie ihn eigenhändig im Garten. Maigret geht erst in eine Bar, dann in die nächste, das ist die Liberty Bar. Hier trifft er auf eine alte Frau, sie hat Wasser in den Beinen und macht es nicht mehr sehr lang; eine junge Frau, unter dem Bademantel hat sie nichts an, man sieht, Maigret sieht, Simenon zeigt uns ihre Brüste. Sie hat einen Zuhälter, der Tote war in der Bar wie zuhause. Wie alles zusammenhängt, erklärt Maigret, der nichts unternimmt, am Essenstisch zurück in Paris seiner Frau. Den Blumenkohl, den sie erst kochen wollte, hat sie nicht für ihn gekocht. Sie hat Schwierigkeiten, das alles, mit dem Mann, den vielen Frauen, die Sache mit der Liberty Bar, so recht zu begreifen. Er auch, sagt er, und isst, was Madame Maigret für ihn gekocht hat. (70cp)

16 Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Ein Roman am Übergang von Meer und Kanal, von Schiff und von Kahn, ein Buch, das geografisch vom normannischen Ouistreham (Schreib- und Handlungsort fallen zusammen) bis nach Norwegen reicht. Erst fällt ein Kapitän in Maigrets Zuständigkeit, auf den Straßen von Paris unterwegs, ohne Identität und Gedächtnis. Es wird dann per Zeitungsinserat klar, wer er ist, eine junge Frau namens Julie, die seine Haushälterin war, erkennt ihn; die Spur führt in den Hafenort, dort gehört der Kapitän hin, dort hat er Jahrzehnte friedlich und als niemandes Feind gelebt, dort wird er getötet. Maigret bleibt und liegt auf der Lauer, liegt auch eine halbe Nacht lang gefesselt im Regen, durchnässt und mit gutem Grund wütend. Wieder ist das Warten, Beobachten, Insistieren die Scheidekunst, die eine nebulöse Angelegenheit zu Tat und Täterschaft destilliert. (72cp) 

17 Maigret und der Verrückte von Bergerac

Maigret fährt mit dem Zug, einen befreundeten Polizisten in Bergerac will er besuchen, die Kleinstadt, in der ein Frauenmörder sein Unwesen treibt. Der Mann über ihm, sie sind im Schlafwagen unterwegs, ist unruhig, seufzt, verlässt das Abteil, springt bei langsamer Fahrt aus dem Zug. Maigret eilt und springt aus einem Impuls heraus hinterher. Ein Schuss, er ist getroffen, wacht im Krankenhaus auf, an seinem Bett ist die bessere Gesellschaft von Bergerac um ihn versammelt. Der Anwalt, der Arzt, der Polizist. Er hat sie alle recht schnell unter Verdacht. Maigrets Frau kommt aus Paris und versucht, ihn am Pfeifenrauchen zu hindern. Sie hat die größte Rolle in den Romanen bisher, was Simenons Misogynie erst recht zum Vorschein bringt: Der Mann ist Kraft, Herrlichkeit, Hirn. Einer der Männer sammelt pornografische Drucke, Maigret zeigt Verständnis. Einer Männer ist nicht der, der er scheint. Überhaupt ziemlich viel Sodom und einiges an Gomorrha im beschaulichen Bergerac. Maigret befragt, kombiniert, ermittelt, meistens im Liegen. Eine Spur, die nach Algerien führt. Ein Vater und ein Sohn, die hoch hinaus wollten: tot. (76cp)

18 Maigret in Nöten

In Charenton-le-Pont, kurz vor Paris, wo die Marne in die Seine fließt, stürzt ein Schiffer von seinem Kahn in den Fluss. Er wird gerettet, da schwimmt leblos ein zweiter heran, mit Messerstich, aber wiederbelebbar. Der zweite ist ein dicker Fisch, ein Self-Made-Millionär namens Ducrau, dem die Werft und viele Häuser gehören. Ein Schürzenjäger, der Ruf eilt ihm hinterher und voraus. Noch im eigenen Haus lebt neben seiner Frau, die er kleinmacht, und der Tochter, von der er nichts hält, mit ihrem Mann, den er auch nicht ausstehen kann, die Geliebte. Ducrau hat das Geld, also die Macht, also arrangiert er sich die Welt, wie er sie mag. Er begeht aus eigener Rachevollkommenheit eine Tat, der Maigret mit bewährt passiver Insistenz auf die Spur kommt. Es ist sein letzter Fall, nächste Woche geht er weit vor der Zeit in Pension, seine Frau ist ihm schon in Richtung Häuschen in Richtung Meung-sur-Loire voraus. Ducrau will ihn kaufen, als Sicherheitsmann, aber kaufen lässt Maigret sich nicht. (68cp)

19 Maigret und sein Neffe

Maigret ist nun im Ruhestand, zwei Jahre schon, Häuschen an der Loire. Eigentlich sollte mit dem Band zuvor schon Schluss, Simeon ließ sich erweichen, ein letztes Mal darf Maigret zurück, nach Paris, als privater Ermittler, auf ihn gewartet hat sein Nachfolger nicht am Quai des Orfèvres. Sein Neffe nämlich ist in der Bredouille, und Maigret ist nicht ganz ohne Schuld, da Philippe Polizist ist, mit dem Onkel als Vorbild. Nun steht er unter Verdacht, bei einer Ermittlung im dunklen Lokal einen Mann erschossen zu haben. Das wird so nicht sein, das ist auch nicht so, den wahren Täter, Hintermann jedenfalls, Kopf des organisierten Verbrechens mit Verbindungen auch zur Polizei in Paris, hat Maigret bald ausgemacht. Beginnt mit der Belagerung, von den alten Kollegen der Polizei, seinem Assistenten Lucas nicht zuletzt, unterstützt. Gut, dass es nie die Privilegien des Amts waren, die er für seine Ermittlungen braucht. So sitzt er wieder, schaut, verfolgt, fragt, lässt nicht locker, bekommt schlechte Laune, schlägt einmal gar zu und das große Finale ist ein Verhör des mit allen Wassern gewaschenen Täters, bei dem selbst Maigret ins Schwitzen gerät. Damit dass das Telefon als Abhörgerät präpariert ist, rechnet der jedoch nicht. Neunzehnter Fall, wäre fast der letzte gewesen. War er dann aber nicht. (68cp)

20 Maigret und die Keller des Majestic

Nicht nur hatte Simenon den Kommissar zuletzt in die Frühpensionierung geschickt, er hat auch einige Jahre Pause zugunsten der aus seiner Sicht seriöseren maigretfreien roman-dur-Literatur gemacht. Dann aber, 1942, Maigret revient, drei neue Fälle, von Pension ist nicht mehr die Rede (Bruch, durch Verschweigen, in der Erzählwelt), mit Maigret und die Keller des Majestic kehren Autor und Kommissar gezielt an den Schauplatz des ersten Romans, Pietr, der Lette, zurück: ins titelgebende Nobel-Hotel an den Champs-Elysées. Hier, im Keller, findet sich erst eine Leiche im Spind, dann eine zweite. Maigret erkundet mit viel Sympathie den Mikrokosmos des Kellers, heftet sich dem rothaarigen Hauptverdächtigen an die Fersen, aber nicht weil er ihn für den Mörder, sondern weil er ihn für unschuldig hält. Vorgeschichten-Ermittlung in Cannes, drei Grazien der Nachtclub-Welt, von denen die eine erst stieg und dann fiel. Ein Faustschlag, den Maigret abbekommt, dann noch einer, diesmal teilt er aus, als Selbstjustiz, von Simenon abgenickt. Ein düsteres Buch, robust, wo sonst die Zeit der Beobachtung, des Wartens regiert, gibt es hier eine dichtere Welt, voll von Handelnden, die die Folgen ihres Tuns nicht zu kontrollieren vermögen. (77cp)

21 Maigret und das Haus des Richters

Maigret ist strafversetzt, die Gründe bleiben recht vage. Luçon heißt der Ort, liegt in der Vendée, der Kommissar hat wenig zu tun, sieht in der Kneipe den Billardspielern beim Billardspiel zu. Dann jedoch eine Leiche, erst als Gerücht. Eine alte Frau, Didine genannt, erzählt ihm, im Haus eines Richters, der im Fischerdorf L’Aiguillon-sur-Mer lebt, liege, von ihrem Haus gegenüber sichtbar, ein Toter. Fast komödiantische Szene, als Maigret den Richter beim Versuch der Entsorgung der Leiche ins Meer ertappt. Folgt Bewirtung im Haus, Gespräch, versuchte Leutseligkeit. Die Tochter des Richters lebt bei ihm als eine Art mad woman in the attic, nymphoman, nicht nur Maigrets Blick fällt bei der ersten Begegnung auf die pralle Brust dieser Lise. Das Verbrechen führt zu Vorgeschichten zurück, auch nach Versailles, da wartet eine alte Leiche in einem Brunnen, ein langes, intensives Verhör bringt zuletzt auch die Wahrheit zu Tage. Der Kommissar wird mit einem Varieté-Künstler verglichen, der beim Verhör wie dieser die Spannung hoch halten muss. Erschöpft ist Maigret am Ende, als habe er die ganze Welt an einem Arm halten müssen. Und wird zurückblicken auf diesen Fall an diesem Ort fern von Paris, als läge der in einer Schneekugel eingekapselt. Auf diesen explizit genannten Schließungseffekt will das Buch hinaus. Simenon wird während der Besatzung in der Nähe von Luçon leben. Maigret kehrt zurück nach Paris. (73cp)

22 Maigret verliert eine Verehrerin

Mehr als sonst scheint vieles fast wie geträumt. Der Verbindungsgang zwischen Polizeihauptquartier und Palais de Justice, mit einer Tür zu einem sinnlosen Raum, hinter der eine Leiche versteckt ist. Die Leiche, die Cécile hieß und wieder und wieder im Revier saß und mit niemand anderem als Maigret sprechen wollte. Maigret, der ins Kino geht, wo er entweder schläft oder, wie hier, das Kommando einer Art Halbbewusstsein überlasst, mit dessen Hilfe Erkenntnisse reifen. (Nicht dass er den Blick vom jungen Paar neben ihm wirklich abwenden kann.) Nicht nur Cécile ist tot, sondern auch ihre Tante in einem hellhörigen Haus. Ein Anwalt, eine Erbschaft, ein Bewohner, der Frauen gern Schlüpfriges zeigt, außerdem eine polnische Bande. Madame Maigret, die sich und ihren Mann fragt, warum er, der oft genug nicht richtig zuhört, nicht viel öfter Ohrfeigen erhält. Verstecke (Geld) und Funde (Brief). Der Ort, diesmal ganz ohne Wasser (nur Nebel und Herbst) und ohne Kanal, ist Bourg-la-Reine bei Paris und ein Kriminologe aus den USA ist mit von der Partie. (67cp)

23 Maigret contra Picpus

Picpus, Unterzeichner eines Briefs, der vor der Ermordung einer Hellseherin warnt, existiert gar nicht wirklich. Wer sich dahinter versteckt, ist, auch wenn die Hellseherin trotz Überwachung der polizeibekannten Vertreterinnen ihres Berufs tatsächlich stirbt, eher ein Nebenrätsel des Buchs (Originaltitel: Signé Picpus), das Haupträtsel ist ein alter Mann namens Le Cloaguen, dem ein Schweißtropfen der Angst von der Stirn perlt, der in die Küche der Hellseherin eingesperrt war und wieder und wieder erklärt, er sei nicht zurechnungsfähig, weil nämlich verrückt. Da ist die Frau von Le Cloaguen, die Maigret aufbringt wie in seinem an aufbringenden Begegnungen nicht armen Leben bislang niemand sonst. (Sagt der Erzähler, der hier öfter aus der Halbdistanz Beobachtungen macht, etwa das Intuitions-Genie Maigrets betreffend. Oder einen Vergleich des Kommissars mit einem Schachspieler, der die Figurenzüge sehr genau plant.) Außerdem: Ein Mann mit Bridge-Leidenschaft, der die ganze Sache in Gang bringt. Es gibt Vorgeschichten, Verbrechen, Intrigen, wieder einmal ein langes, ein sehr langes Verhör. Madame Maigret wartet, per Telefon auf die lange Bank geschoben, der Kommissar macht durch und schläft zuhause dann sogleich ein. Seine Frau hat gekocht, er geht, die Mahlzeit bleibt unverspeist, stante pede ins Bett. (69cp)

24 Maigret und sein Rivale

Kurz vor Schluss widerspricht Maigret: «Ich denke nie.» Die Erzähl-Instanz gibt ihm recht, jedenfalls fast. Er denkt nicht, er schwillt nur an. Wie ein Schwamm, der sich mit den Atmosphären des Orts, den Geschichten seiner Bewohner vollgesogen hat. Nun versammelt er sie, drei Männer, in einem der Räume, in die er wieder und wieder zurückgekehrt ist, und konfrontiert sie mit dem, was er ahnt, das Wissen, das er aufgesaugt hat, schwemmt er nun in die Seelen, ins Gewissen der schuldig Gewordenen wieder zurück. Von einem wird er höhnisch als Sherlock Holmes tituliert. Was geschehen ist, werden wir wissen, aber die Sache wird, vor dem Gesetz, unbefriedigend unaufgelöst bleiben. Ein junger Mann wurde getötet, eine schwangere junge Frau tritt ins Zimmer Maigrets, der auf Bitten eines Freundes, des Untersuchungsrichters, in die Fremde kam, in das Städtchen Saint-Aubin-les-Marais in der Vendée. Es ist Januar und nasskalt und erwünscht ist er nicht, mit ihm trifft hier ein: sein Ex-Kollege Justin Cavre, immer nur Inspektor Cadavre genannt. Maigret fährt zurück, wie auch Cadavre, er hat Gerechtigkeit in die Sache gebracht, aber am Ende zu wenig. Ein bisschen mehr davon wird mit dem letzten Satz importiert, aus argentinischer Zukunft. (70cp)  

25 Maigret und das Dienstmädchen

Die Geschichte vom Buchhalter, der ein Bein verlor, als er unversehens auf hohe See geriet, was das letzte war, was er wollte. Sein Name war seitdem Holzbein, nun ist er tot. Es ist Frühling, der Ort heißt Jeanneville und Maigret ist faszinierter und faszinierter von Félicie, die des Toten Dienstmädchen war (auch wenn sie es leugnet, wie sie, man weiß nicht warum, alles leugnet). Félicie lebt in Träumen und Romanen, kleidet sich bunt, weshalb das Dorf sie Kakadu nennt, und erbt das Haus in dem der Tote lebt. Maigret sieht sich das an, und dann bleibt er. Rückt dieser Félicie nicht mehr von der Pelle, der Frau, die lügt, die eine Waffe verschwinden ließ, die nicht die Täterin gewesen sein wird. Maigrets Kollegen ermitteln, er bleibt, sitzt, entlockt dem Kakadu nichts. Ein Roman der verhockten Doppelpräsenz, obstinat wie sein Held, der auf Granit beißt und nichts anderes will. (68cp)

26 Maigret regt sich auf

Der Komissar ist nunmehr der Gärtner, zumindest denkt das Madame Amorelle, 82, als sie den Pensionär in Meung-sur-Loire aufsucht. Sie bittet ihn, im Todesfall ihrer Enkelin zu ermitteln, und so gerät Maigret nach zwei Jahren Ruhestand in alte Fahrwasser, in einen kleinen Ort namens Orsenne, an der Seine. Was nicht fehlt, wie fast schon Maigret-leitmotivisch recht selten: Treidelpfade am Rand, am Ende werden Polizeiautos darauf stehen. Zunächst aber, sehr lange, kommt Maigret nicht voran. Trinkt zuviel, noch dazu Kümmel, den er verabscheut, mit der einst attraktiven Wirtin; hat eine Ahnung oder mehr als das, einen Verdacht, wird zudem von einem ehemaligen Schulkameraden, den er schon damals nicht mochte, geduzt. Bald will man ihn loswerden, er aber bleibt, holt gar die alten Kollegen zu Hilfe, Nebenschauplatz ist seine Stadtwohnung an der Place des Vosges (nicht mehr Boulevard Richard Lenoir; Simenon selbst wohnt nun auch da). Revolver werden gezückt, am Ende geht einer los und bringt, wenn auch nicht auf dem Weg des Gesetzes, den Übeltäter zur Strecke. (68cp)

27 Maigret in New York

Ein junger Mann reißt Maigret, der nicht widerwillig scheint, aus dem Rentnerdasein. Sein Vater, sagt der Mann, schreibe sehr beunruhigende Briefe, sein Leben sei womöglich bedroht. Da bucht Maigret sehr kurzerhand ein Ticket fürs Schiff, das nach Amerika fährt, verlässt, eine Premiere, Europa, landet an in New York. Hat mit Sprachproblemen zu kämpfen, ist mit einem befreundeten Polizeikommissar und diversen Privatdetektiven zugange, einem stets betrunkenen Reporter und vor allem dem Vater des jungen Manns, der im Nobelhotel logiert und reich geworden ist als im ganzen Land, und in Südamerika auch, tätiger Jukebox-Verkäufer. Worauf Maigret nach und nach stößt, worein er sich nach und nach bohrt: ein Verbrechen, das in der Vergangenheit liegt. Aber auch in der Gegenwart kommt es zu einem Mord. Maigret deduziert, wie in Frankreich gelernt, auch in Amerika nicht, sondern versenkt sich in die andere Person, fühlt sich und identifiziert sich hypnotisch hinein. Am Ende wieder eines der langen Verhöre, diesmal mit Telefonleitung nach Frankreich. Was gewesen ist, klärt sich, aber zu retten ist nichts. Leer aus geht das Recht, auch wenn die Gerechtigkeit Kollateralsiege mitnimmt. Zurück auf das Schiff, die Bar, Melancholie. (70cp)

28 Maigret macht Ferien

Das Zentrum bleibt leer, hinter verschlossener Tür: Odette, die Ehefrau des Arzts Bellamy, die dieser, hoch geachtetes Mitglied der Gesellschaft von Les Sables-d’Olonne, mit den eisernen Spangen seiner Eifersucht liebt. Maigret, in diesem Roman wieder Kommissar, ist in dem Atlantikörtchen im Urlaub, als Madame Maigret ins Krankenhaus kommt, akute Blinddarmentzündung. Dort stirbt eine junge Frau, ein Mann verschwindet, Maigret, im ganzen Land berühmt wie schon lange, beginnt zu ermitteln und geht von sich öffnender Tür zu sich öffnender Tür. (Nur die zu Odette bleibt geschlossen.) Er fragt, bekommt Antwort, er kreist und sucht den Zusammenhang zwischen dem Tod der einen, dem Verschwinden des andern und dem Tod, er gibt sich einen Teil der Schuld, einer Dritten. Der Arzt Bellamy wird ihm zum ebenbürtigen Andern, ein so vernünftiger Mann, dessen Kehrseite die blanke Unvernunft ist. Es ist dieser Abgrund, in den sich Maigret, der in allen Abgründen zuhause ist, aber selbst keine hat, für die lange Schlusskonfrontation, die ihm wie stets zugleich Leiden und Lust ist, begibt. (73cp)

29 Maigret und sein Toter

Maigres Toter ist ein Mann, den er nicht kennt. Von dem Anrufe kommen, er fühlt sich verfolgt, und er ist es, und bevor Maigret ihn finden kann, ist der Mann tot. Der Kommissar liegt mit Erkältung zuhause, als ihn der Richter besucht, stopft Madam Maigret dem Gatten die Pfeife, als der Richter weg ist, bringt sie ihn auf die richtige Spur. Die führt auf Umwegen zu einer tscheschischen Bande (Simenon macht ein Wortspiel mit Scheck), sie führt in ein einfaches Restaurant, Petit Albert, das der Tote mit seiner Frau, der schielenden Nine, betrieb, bis er start. Nine, die keiner für hübsch hält, nur ganz am Ende Maigret beinahe doch, Nine lebt, sie ist in Sicherheit, das Bild, das andere von ihr zeichnen, hilft Maigret dabei, sich seinem Toten, der rundum beliebt war, zu nähern. Halb Falle, halb Reenactment als Annäherung: Die Polizei übernimmt für ein Paar Tage das Restaurant, Maigret hinter dem Tresen, die Frau des Kollegen kocht, und sie kocht gut. Ein zweiter Toter fällt an, eine Mittäterin mit Säugling übt sich im Schweigen, Maigret hat Geduld und das Petit Albert macht nach kurzem und erfolgreichem Nachleben dicht. (73cp)

30 Maigrets erste Untersuchung

Es geht, im dreißigsten Fall, mehr als dreißig Jahre zurück, Maigrets erster Fall, noch ist er nicht Kommissar, sondern Kommissariatssekretär, wir schreiben das Jahr 1913, den 15. April, Maigret ist 26, auch wenn sich das mit den wenigen anderen genauen Zeitangaben der Serie nicht deckt. Als Erzählposition schimmert die Zukunft gelegentlich durch, der Erzähler weiß, dass Maigrets Rückzug in den Schweißgeruch seines Betts eine Gewohnheit sein wird, hier ist es das, wie er auch weiß, noch nicht. Der Fall ist, hier schon und wie so oft später, fast wie geträumt. Ein Schuss ist gefallen, durch ein offenes Fenster, oder jedenfalls behauptet das ein Flötist, der unten auf der Straße vorbeiging. Maigret soll ermitteln, schnell stellt sich heraus, dass beste Gesellschaft verstrickt ist, sein Vorgesetzter ist mit den Verdächtigen nur zu bekannt, heikel und schwierig das alles, am Ende gibt Maigret, der doch eigentlich Arzt werden wollte oder Priester, “Schicksalsflicker” jedenfalls. Das wird er, das ist er, der Alkohol hilft, das Herumsitzen in der Kneipe, das Umschalten in den brütend erkennenden Modus, auch wenn das alles, nicht zuletzt er selbst, schmächtig, mit gezwirbeltem Bart, noch nicht seine Vollgestalt hat. Der Ausblick in die Zukunft am Schluss geht dreißig Jahre voraus, allerdings auch in ein Alternativuniversum: Die Wiederbegegnung mit der Familie Balthazar findet in den Maigrets, die wir haben, nie statt. (70cp)

31 Mein Freund Maigret

Porquerolles, Insel der Seligen vor der französischen Mittelmeerküste, hierhin flieht Maigret aus dem kühlen Paris und hat dabei seinen Kollegen von Scotland Yard, Inspektor Pyke, im Gepäck. Der ist auf der Spur der Methoden des berühmten Kommissars, der sich allerdings seinerseits im Spiegel betrachtet und kaum glauben kann, dass ihn nicht das Kind anblickt, an das zu sein er sich so gut erinnert, sondern der in die Breite gegangene, kahl werdende erwachsene Mann, als den ihn alle Welt auch behandelt. In Porquerolles ist einer gestorben, nachdem er behauptet hat, Maigret sei sein Freund. Der kann sich nur mit Mühe erinnern, lernt, dem süßen Nichtstun nur unter Anstrengungen nicht erliegend, Existenzen kennen (redend, sinnend, sitzend), die das Weite gesucht haben, vielmehr das Enge: die Überschaubarkeit einer Insel. Ohne dass der Inspektor eine Methode erkennt (das tut er erst im Finale, in der Verhörsituation, und macht sich intuitiv klein), schieben sich die Puzzlestück zusammen zu einem Bild, das von van Gogh zu sein scheint, aber nicht ist. Ein Kunstfälschungsroman, der schlimmste Schurke bekommt auf Maigrets Wunsch mal wieder einen Schlag ins Gesicht. Es ist aber eine ganz und gar Unschuldige, die am Ende stirbt. (73cp)

32 Maigret in Arizona

Nun die Umkehrung: Nicht der Kollege von Scotland Yard bei Maigret, sondern Maigret als Beobachter in den USA unterwegs. Wobei es zum Unterwegssein erst am Ende, mit dem Flug nach Kalifornien, kommt. Zuvor sitzt der Mann aus Paris in Tucson, Arizona, buchstäblich fest. Und zwar bei einem Prozess. Eine junge Frau, mit 17 schon einmal geschieden, nun verdient sie ihr Geld in einer Bar und als Gelegenheitsprostituierte, verschwindet in der Nähe der mexikanischen Grenze, ein Zug hat sie zerstückelt, der Kopf wird vom Rest des Körpers getrennt. Fünf Männer von der Airforce-Base, mit denen sie unterwegs war, werden verdächtigt, sie womöglich vergewaltigt und getötet zu haben. Der Roman folgt, mit und durch Maigret, der Befragung, bei der es zu widersprüchlichen Aussagen kommt. Maigret sitzt, wie so oft, macht Beobachtungen, der Personen, aber auch, nicht von Klischees frei, der amerikanischen Sitten (warum fragt der Coroner nicht nach dem, was auf der Hand liegt, dem Sex?), doch im Frage-und-Antwort-Spiel will sich die von Simenon sonst so virtuos erzeugte Maigret-Trance nicht einstellen: Es bleibt der Kommissar und mit ihm das Milieuwahrnehmungsdrama stillgestellt, passiv, verhockt. (60cp)

33 Maigret und die alte Dame

Nun wieder Frankreich, Maigret jedenfalls, denn Simenon schreibt das Buch im idyllischen Kalifornien, in Carmel-by-the-Sea. Und nun wieder gerade nicht Paris für Maigret, sondern der Ruf der Provinz. Doppelt gleich ist er erfolgt, dieser Ruf, ins Seebad Étreta nahe Le Havre. Die alte Dame des Titels, Valentine, Witwe eines einst mit einem Akne-Mittel zu Geld gekommenen, dann pleite gegangenen Herrn, sucht Maigret auf am Quai d’Orfèvre, ihre Bedienstete wurde mit einem Gifttrank ermordet, der, denkt sie, eigentlich ihr galt. Die Tote, Rose, war ein Bauernmädchen, das zu viel las, Freud nur zum Beispiel – Simenon weist solchen Ehrgeiz als falschen klassistisch in seine Schranken. Dann ist da Charles, Stiefsohn Valentines Nummer eins, ein Politiker von lokaler Bedeutung, auch er ruft, wiewohl telefonisch, den berühmten Pariser Kommissar zu Hilfe. Der kommt, beobachtet, brütet, geht allen auf die Nerven, spricht mit der Tochter der alten Dame, einer Arlette, die zu ihrem Unglück sexsüchtig ist, wovon ihr Mann, den sie liebt, nichts wissen soll. Dann ist da Theo, der zweite Stiefsohn, der sich kleidet wie der Herzog von Windsor und auch nichts anbrennen lässt. Hinter allem steckt eine fast rätselkrimihafte Geschichte, Schmuck, Geld, Erbe, Arroganz und so weiter. Maigret malt sich eine Selbstjustiz-Lösung aus, übergibt die Täterin dann aber doch den Gerichten, die Recht sprechen, aber Gerechtigkeit bringen sie nicht. (70cp)

34 Madame Maigrets Freundin

Madame Maigret lässt was anbrennen, denn sie kommt aus reinem Zufall vor einem Zahnarztbesuch neben einem zukünftigen Fall ihres Gatten zu sitzen: Eine Frau auf der Bank neben ihr erspäht etwas, eilt davon, lässt das Kind bei Madame Maigret zurück. Die hat auf die Schuhe geachtet und sucht auf eigene Faust später den Hut. Wie das mit dem des Mordes verdächtigen Buchbinder sowie einem schokoladenbraunen Wagen im Wasser mit Leiche darin sowie auch einem blauen Anzug und überdies einem Clown und Juwelen und Siegeln zusammenhängt, wird Monsieur Maigret mit Hilfe der Gattin nach und nach eruieren, abwartend und verhörend wie gehabt, wobei sich am Ende herausstellt, dass ein mit gar nichts sonst zusammenhängender Zeitungsbericht, der ein Foto von ihm und Madame Maigret zeigt, der Anstoß war, worauf ein Dominostein nach den anderen kippte. Am Anfang der Kette: Maigret. Am Ende: Maigret. Als Igel für recht viele Hasen, und nichts hat ihn zwischendurch aus der Fassung gebracht, nicht einmal das angebrannte Mittagessen zuhause. (71cp)

35 Maigrets Memoiren

Nun spricht Maigret. Schreibt vielmehr seine Memoiren, um die Dinge, die Simenon schief dargestellt hat, gerade zu rücken. Von der ersten Begegnung mit dem allzu selbstbewussten jungen Sim (so nennt er sich zu Beginn) berichtet Maigret, ein Recherche-Besuch. Dann die ersten Romane, Maigret wird berühmt, es stimmt das eine oder andere nicht, wobei sich Simenon mit der Idee einer tieferen Wahrheit herauszureden versucht: Es muss, der Literatur wegen, die eine oder andere Vereinfachung sein. Maigret, das erzählende Ich, verzichtet dann doch auf die Detail-Korrektur, dabei hat er alle Fehler in den Bänden blau angestrichen. Und das eine oder andere wird doch angesprochen: die Melone, die er schon lang nicht mehr trägt, der Samtkragenmantel, gab es mal, gibt es nicht mehr. Ganz zum Schluss wird von Madame Maigret, die in Simenons Büchern viel biederer erscheint, als sie ist, noch ein Zettel gereicht: Nicht Pflaumenschnaps, sondern Himbeergeist bringt sie immer mit aus dem Elsass. Davor geht der Kommissar die Kino-Maigret-Darsteller durch, Pierre Renoir schätzt er, von den anderen ist der eine zu alt, der andere etwas dick (ein Glück, dass ihm Depardieu erspart blieb), er erinnert sich an seinen Vater, den Schlossverwalter, der viel zu jung starb, an sein Medizinstudium, die Schicksalsflicker-Metapher, die er selbst gefunden hat und nicht Simenon. Es ist, alles in allem, ein sehr bodenständiges, anrührendes Meta, ein Charakterbild, das in sanften Absetzungbewegungen von Simenon (mit dem der Kommissar im richtigen Leben dieser Fiktion befreundet ist) den eigenen Mythos durchs Verweis aufs Reale einerseits erdet, was aber andererseits so wenig out of character ist, dass er ihn in dieser Blickwendung erst recht arrondiert. (80cp)

36 Maigret und die Tänzerin

Arlette, die Tänzerin, stirbt, weil sie der Polizei vom Mord an einer Gräfin berichtet. Sie hat es gehört im Picratt’s, wo sie mit ihrem Striptease den Männern, auch einem jungen Polizisten, die Köpfe und andere Körperteile verdreht. Maigret begibt sich ins Milieu von Montmartre, findet Spuren, die in die Vergangenheit der einst schönen und mondänen Gräfin führen, die zuletzt als Morphinistin in einer heruntergekommenen Wohnung vor sich hin vegetierte. Der Wirt Alfonsi, seine Frau Rose, einer, der Heuschrecke heißt, ein drogensüchtiger Homosexueller, ausgehaltener Gespiele der Gräfin: kleine Gesellschaft der Nacht. Arlette, von allen bewundert, wird ersetzt, als recht unbegabt beim Entkleiden erweist sich die junge Frau, die ihre Nachfolgerin wird, aber das kann ja noch werden. Maigret sitzt und blickt, schickt die Inspektoren herum, auf der Suche nach der mysteriösen Figur namens Oscar, die bis fast zuletzt im Verborgenen bleibt. Kein Verhör, Maigret geht beinahe auf in seiner Funktion, Beobachter einer Szene zu sein, zu der die bessere Gesellschaft nur im Zwielicht begegnet. (71cp)

37 Maigret als möblierter Herr

Man hat auf Janvier, einen seiner engsten Mitarbeiter, geschossen und Maigret ist getroffen. Janvier pfeift aus dem Loch in der Lunge, wird jedoch überleben. Von wem der Schuss kam, ist ganz unklar, zwar hat der Inspektor wegen eines Überfalls auf ein Nachtlokal ermittelt, der Täter, ein Mann namens Paulus ist verschwunden (und taucht später unter einem Bett wieder auf), jedoch glaubt Maigret nicht, dass er den Schuss abgab. Und so wird der Kommissar, in Verschärfung seiner üblichen Akklimatisierungs- oder Affinierungsmethode, nicht zur Made im Speck, aber, wo Madame Maigret schon verreist ist, zum möblierten Mieter im Haus, in dem er den Täter vermutet. So macht er die Bekanntschaft eines Milieus der Strandenden, Ringenden, Gestrandeten, auch der üppigen Vermieterin Mademoiselle Clément, die das Leben als solches ulkig zu finden behauptet und entweder ausgesprochen durchtrieben oder ungewöhnlich naiv ist. Maigret igelt sich ein und liegt nachts wach und blickt aus dem Fenster: Im Haus gegenüber ist ein Vorhang meist zugezogen, das weckt Maigrets Interesse. Hier findet er die Lösung des Falls, in einem Zusammenhang aus Liebe, Verfall und viel Unglück, was bei ihm selbst eine schreckliche Erinnerung erweckt, daran nämlich, wie er als Jugendlicher einem Huhn den Kopf abschlagen musste. Er hat es nicht wieder getan, aber nun sieht er den Täter, der ein Opfer ist, hilflos flattern. (72cp)

38 Maigret und die Bohnenstange

Eine erstaunliche Geschichte, die Ernestine, die Bohnenstange, eine ehemalige Prostituierte, mit der Maigret eine unerfreuliche Vorgeschichte hat, ihm da erzählt: Ein Bekannter von ihr raubt Tresore, die er selbst im Hauptberuf aufgestellt hat, im Nebenberuf wieder aus. Nichtsahnend war er unlängst nächtens am Rauben, da fiel das Licht seiner Taschenlampe auf eine Frauenleiche in der Ecke des Zimmers. Maigret sucht das Haus auf, da leben ein massiger und sehr unzugänglicher Zahnarzt und seine sehr resolute Mutter. Wer tatsächlich fehlt: die Frau, mit der der Zahnarzt seit gut zwei Jahren verheiratet ist. Sie habe sich, berichten den beiden, eine Auszeit genommen und sei in ihre niederländische Heimat gereist. Dazu hat sie tatsächlich Anstalten getroffen, Koffer wurden verschickt. Es findet sich jedoch von ihr keine Spur. Maigret rückt, ohne wirkliche Belege zu haben, seiner Intuition vertrauend, zwischendurch aber doch an ihr zweifelnd, dem Sohn und der Mutter auf die Pelle, vernimmt sie, stundenlang, bewegt sich am Rand der Möglichkeiten, die das Gesetz ihm hier lässt. Eine sehr starke Mutter-Sohn-Bindung, in die er, sie aufzulösen, einzudringen versucht. Millimeterweise kommt er voran, erschöpfend für ihn, erschöpfend bei der Lektüre; am Ende hat keiner die Kraft mehr, die Lösung als Erlösung zu empfinden. (70cp)

39 Maigret, Lognon und die Gangster

Eine Leiche fällt auf die Straße, dann ist sie weg. Ein Polizist erstattet keine Meldung, dann vermisst ihn seine Frau. Ein Amerikaner, und noch einer, und noch einer, tauchen auf in Paris. In der Wohnung des Polizisten, in einem Lokal: Sie werden gesichtet, sie entziehen sich, sie schießen, sie wollen töten. Sie sind Gangster aus den Vereinigten Staaten, seine US-Liaison gibt Maigret zu verstehen, er solle besser die Finger von ihnen lassen, das sei für ihn eine Nummer zu groß. Simenon, seinerseits an Grenzüberschreitung interessiert und nach dem Krieg in die USA übergesiedelt, inszeniert einen französischen Hardboiled-Roman per Verbrecher-Import. Der Polizist namens Lognon (oder auch: Griesgram) wird zusammengeschlagen, ein anderer bekommt einen Schuss in den Bauch. Maigrets Ehrgeiz ist mehr als geweckt, er verhört Frauen, die Morgenmäntel tragen und gar nichts darunter. Paris wird zum Schauplatz einer Jagd, von der sich Maigret, das ist klar, von niemandem abhalten lässt. Mehr als hundert Männer hat er am Ende im Einsatz. Die Männer vom Racket werden gefasst, der französische Kommissar hat es den Amerikanern gezeigt. (67cp)

40 Maigret und sein Revolver

Madame Maigret ruft ihren Mann an, im Büro, am Quai d’Orfèvre, und berichtet von einem jungen Mann, der sie besuchte – und am Ende war mit ihm Maigrets Revolver (ein Souvenir von seiner Reise in die Vereinigten Staaten) verschwunden. Noch einmal taucht der junge Mann auf, er war mit seinem Vater bei einem Kollegen Maigrets zu Besuch. Spiel der Objekte: Der Revolver ist weg, ein großer Koffer taucht auf in der Gepäckannahme der Gare du Nord: darin eine Politikerleiche. Das eine ist mit dem anderen durch Verwandtschaft verbunden. Der Mann mit dem Koffer ist der Vater des Revolverdiebs, einer, der große Vision gebiert, mit denen er stets jämmerlich strandet. Maigret sucht ihn auf, der Mann hat, wie es scheint, den Verstand verloren, aber vielleicht tut er nur so. Auf undurchsichtige Weise als zentrale Figur in die Sache verstrickt ist eine umtriebige Frau, die sich nach London abgesetzt hat. Ihr hinterher: der Sohn (Geld hat er sich durch einen Überfall mit Maingrets Revolver besorgt) und Maigret. Nun also: London-Roman. Maigret darf im Hotel Savoy nicht Pfeife rauchen, also raucht er Zigarre. Langer Dialog mit dem jungen Mann, der steckt unter dem Bett. Maigret schiebt sich zusehends als Vaterfigur vor den realen Papa, der nichts taugt. Nach dem Abendessen werden noch Touristenattraktionen besucht, Picadilly Circus, Trafalgar Square. Wieder zuhause berichtet Maigret seiner Frau von alledem. Maigret und sein Revolver. Maigret und sein Sohn. (71cp)

41 Maigret und der Mann auf der Bank

Ein allem Anschein nach unbescholtener Mann liegt in einer kleinen Seitengasse des Boulevard Saint-Martin, tot, ein Messer im Rücken. Maigret spricht mit dessen Frau, einer scheußlichen Person, nur interessiert am Bild, das sie abgibt (was nun gerade ein sehr hässliches Bild macht). Die Tragödie des Toten, Louis Thouret, lag darin, dass er dieser Ehe nicht wirklich entkam. Auch wegen der Tochter, die ihre Mutter hasst, aber auf die Frage Maigrets, ob sie den Vater geliebt hat, nicht sofort antworten kann. Diese Tochter, Monique, ist eine selbstbewusste, kalte Figur, sehr viel beeindruckender als der läppische Mann, mit dem sie ihren Vater erpresste. Sie hatte entdeckt, dass er seit Jahren seinem Job nicht mehr nachging, sondern, was er vor der Familie verbarg, in Paris auf öffentlichen Bänken herumsaß. Was es damit auf sich hat, puzzelt Maigret nach und nach zusammen, es kommt ein Mann ins Bild, dessen Clownsgesicht allen auffällt. Ein Zimmer für sich hatte Thouret auch gemietet, dort hatte er regelmäßig von seiner Geliebten Besuch. Die Vermieterin ist eine Ex-Prostituierte, die in ihrem Haus nun aktive Prostituierte beherbergt. Das vollständige Bild setzt sich Figur um Figur und Gespräch um Gespräch zusammen, die Aufklärung des Mords ist beinahe etwas wie ein Nachgedanke, der Täter spielt im Gesamtbild nur eine winzige Rolle. Mit den Brüsten, die vor Maigrets Augen aus Morgenmänteln quellen, einmal wie Brotteig (Simenons Bild), ist es so langsam aber doch mal genug. (70cp)

42 Maigret hat Angst

Maigret fährt auf einen Polizeikongress nach Bordeaux und fühlt sich unter den jungen Kollegen sehr alt – wir befinden uns in der schwankenden Chronologie der Romane drei Jahre vor seiner Pensionierung. Was es nicht besser macht: Er macht auf dem Rückweg halt in der Provinz, Fontenay-le-Comte, um seinen Studienkollegen von einst, Julien Chabot, nun Untersuchungsrichter des Orts, zu besuchen. Man hat sich recht lange nicht gesehen, die Lebenswege haben für den einen Jul- in die Hauptstadt und zum Ruhm geführt (wieder wird er von vielen auf der Straße als der Kommissar, von dem die Zeitungen immer berichten, erkannt), der andere blieb, dabei hat ihn Maigret einst beneidet, wo er war, hier, in der Vendée, Teil der besseren Gesellschaft, deren Glanz sehr gelitten hat, was nichts daran ändert, dass viele den herabgekommenen Adel, in dessen Umfeld auch Chabot gehört, mit Missgunst betrachten. Mit Maigrets Erwachen aus unruhigem Zugschlaf beginnt der Roman. Der Kommissar erfährt im Gespräch mit einem Mitpassagier von einer Mordserie in Fontenay, natürlich wird er in die Sache hineingezogen, muss Madame Maigret telefonisch vertrösten. Viel ist, was das Hinfallen des Verdachts angeht, von Geisteskrankheit die Rede, die Angelegenheit streift des Serienmordkerns wegen auf etwas ungewohnte Weise die Konventionen des Whodunit. Es geht dann aber doch um viele Arten des Unglücks, den finanziellen Absturz, der nur Fassaden zurücklässt, gegen deren Einsturz sich der Täter, ein schlechter Verlierer beim Bridge, mit Gewalt stemmt. Da ist aber auch die Prostituierte, in die sich ein Mann rasend, rührende Liebesbriefe schreibend verliebt; was jedoch auf dieser Welt, in Fontenay jedenfalls, nicht gut gehen kann. Maigret ist in Sorge, um die Verletzlichen, und hat Angst, dass die Grobheit des Ermittlers vor Ort schlimmen Schaden hervorruft. So kommt es. Maigret fährt vorzeitig ab, in Paris ruft ein anderer Fall. Die endgültige Aufklärung: ein Nachgedanke. (72cp)

43 Hier irrt Maigret 

Louise, eine junge Frau, die als Prostituierte gearbeitet hat, wird erschossen aufgefunden, in ihrer zu teuren Wohnung in einem zu guten Viertel, dem Quartier des Ternes im Zentrum von Paris. Sie hatte einen Geliebten, Pierre, der zunächst der Hauptverdächtige ist. Recht schnell aber ermittelt Maigret, dass im zu teuren Haus ein berühmter Chirurg lebt, der die Wohnung bezahlte. Seine Ehefrau wusste davon, hat es, wie sie ostentativ erklärt, mit Gleichmut erduldet, gehasst hat den Arzt, der Frauen, beziehungsweise den Sex mit ihnen, zur Entspannung benutzt hat, nur die Schwester der Frau. Sagt sie offen. Eine Assistentin gibt es im Krankenhaus, die ihren Chef kritiklos bewundert. Das falsche Alibi, das sie ihm gibt, hätte er gar nicht gebraucht. Ein Novemberroman, Maigret trinkt diesmal den Tresterbrand Marc, draußen Nebel und Kühle, die Innenräume sind warm, wenn nicht überheizt. Kalt, sehr kalt ist das Weltbild des berühmten Chirurgen, in dem Maigret (oder Simenon) etwas wie einen bösen Zwilling des Kommissars erkennt: Der Blick der Vernunft macht sich über die Schwäche des Menschen wenig Illusionen. Der Chirurg jedoch blickt mit Verachtung von oben, Maigret sucht zu verstehen. Auf die Frage, die ihm von einer der Frauen gestellt wird, ob seine Moral konventionell sei, antwortet er nicht direkt. Vermutlich zurecht, weil der gerne als Kleinbürger beschriebene Maigret in Sachen moralischer Konventionen ein Agnostiker ist. Seine Seelenflicker-Moral ist keine der konkreten Sittlichkeit, sondern basiert auf einer fundamentaleren Haltung: Seine Zuneigung gilt den Schwachen, wozu immer ihre Schwäche sie hinreißen wird. Die Verachtung gilt jenen, deren kalte Stärke diese Haltung unmöglich macht. Darum ist der Chirurg, der kein Mitleid kennt und Menschen benutzt und verbraucht, in Simenons Welt eine Teufelsfigur: Maigrets Irrtum liegt im Glauben, es ließe sich ein Funken Menschlichkeit in ihm entdecken. Der Mann ist ein Teufel, dem Gesetz freilich nichts anhaben kann. Maigrets (und Simenons) Verstehen gilt ganz denen, die er zu Taten trieb, die nachvollziehbar sind, wenngleich um nichts weniger furchtbar. (74cp)

44 Maigret in der Schule (1954)

Draußen ist Frühling. Drinnen sitzt ein Mann und wartet. Er sitzt im «Fegefeuer», dem gläsernen Warteraum in der Polizeidirektion am Quai d’Orfèvre, und Maigret ahnt schon: Dieser Mann wartet auf ihn. Joseph Gastin ist Lehrer, er kommt aus der Provinz, einem Dorf namens Saint-André-sur-Mer bei La Rochelle, und wird verdächtigt, eine Frau mit einem Kleinkalibergewehr durchs linke Auge erschossen zu haben. Ein Motiv gibt es, denn die Tote wusste von der Affäre, die Gastins Frau andernorts hatte (inzwischen ist von ihr als Frau nichts mehr übrig, in solchen Wendungen äußert sich verlässlich Simenons Misogynie), und vom Skandal, zu dem das geführt hat. Sie nutzte dieses Wissen für Beschimpfungen weidlich. Maigret, der eigentlich andere Pläne hatte, den die Austern locken und der Weißwein dazu, fährt mit dem Mann in dessen Dorf, wieder ein sehr schöner Mikrokosmos von Figuren, die über die Jahre und Jahrzehnte hinweg eher Missgunst als Sympathie aneinander eher fesselt als bindet. Der Lehrer ist ein sehr korrekter Mann und darum einer, findet Maigret schnell heraus, der die Augen nicht zudrückt. Weil es keine positive Sozialität gibt, sondern nur eine negative, das Betrügen des Staats, das Erschummeln von Geldern und das Partner-in-crime-Sein als einziges Residuum von Solidarität, kommt Gastin als Sündenbock den meisten sehr recht. Maigret folgt Blicken und Spuren unter den Erwachsenen, aber mehr noch den Kindern: Wer wen deckt, wer was gesehen hat, wer wann mit der Sprache herausrückt, wer warum die Wahrheit biegt oder lügt – Maigret hört zu, leistet an des Rätsels Lösung geduldig Hebammendienste. Dann fährt er zurück nach Paris. (67cp) 



45 Maigret und die junge Tote (1954)

Wohin Maigret auch kommt: Insepktor Lorgnon, Griesgram genannt, war immer schon da. Im Regen, zur Nacht, die Erkältung hindert ihn so wenig wie andere Widrigkeiten. Es ist ein Roman über den eifrigen Mann, der ein Unglückswurm bleibt, weil er den Fleiß hat, aber nicht die Fähigkeit Maigrets, sich eine Person so vor Augen zu stellen, als entwickle er sie als Fotografie in seiner Seele. Diese Person, die junge Tote, Louise Laboine: noch eine Unglücksfigur, der Provinz und der dem Glücksspiel verfallenen Mutter entronnen, um in Paris nicht glücklich zu werden. Noch im Zug lernt sie eine junge Frau kennen, die ihr positives Gegenbild ist und in der Großstadt schnell rüssiert. Louise dagegen bettelt, im schäbigen Kleid, noch auf der Hochzeit der anderen. Selbst ihr Tod ist fast ein Zufall, eine Kette, die die Handtäsche hält, wird ihr zum Verhängnis. Maigret folgt ihrer Spur, der des Kleids, befragt die Vermieterin und die wenigen anderen, die sie kannten, er trabt dabei die ganze Zeit Lorgnon, der ihm immer voraus ist, hinterdrein, bis dieser, von seiner fehlenden Intuition in die Irre geführt, auf den Abweg nach Brüssel gerät, während Maigret den Fall in einem Verhör aufklären kann. (71cp)

46 Maigret und der Minister (1955)

Maigret geht in die Politik. Richtiger gesagt: Er lässt sich in deren Sphäre ziehen, weil ihn ein Mann, den er als Spiegelbild seiner selbst begreift, darum bittet. 128 Kinder sind gestorben, aber kein Mord ist geschehen, nur der Verdacht der Korruption steht im Raum: Die Baugenehmigung für den Neubau eines Sanatoriums. bei dessen Einsturz die Kinder starben, hätte, wie ein Bericht belegt, nie erteilt werden dürfen. Nun aber ist der Bericht verschwunden, dem Minister für öffentliche Arbeiten aus der privaten Wohnung entwendet. Dieser Minister, Name: Point, Figur: Embonpoint, Ehefrau: ähnelt ihrerseits Madame Maigret, bittet in seiner verzweifelten Unschuld den berühmten Kommissar um Hilfe. Der sympathisiert trotz seiner grundsätzlichen Verachtung für die Politiker und die Politik, bringt nicht ohne persönliches Risiko seine Leute als stille Ermittler gegen die der Sûreté in Stellung, spricht mit der Entourage des Ministers (schon wieder eine in den Chef verliebte Sekretärin, enough already, Monsieur Simenon), mit Concierges und Betreibern von Bars, kommt immerhin per Zigarre einer Täter-Figur auf die Spur, der er sich jedoch erst spät, im Finale, in einem Haus auf dem Dorf mit seiner Destruktions-Empathie nähern kann. Mit der Entlastung des Ministers ist erst die halbe Arbeit getan, den Rest erledigt, hofft der letzte Satz, die psychische Struktur eines Täters, der sich auf lange Sicht selbst zur Strecke bringen wird. (67cp)